Otto Schmidt Verlag

BGH v. 8.7.2022 - V ZR 207/21

Wer darf Maßnahmen zur Wiederherstellung des Sondereigentums beschließen?

Die Eigentümergemeinschaft, die unter Geltung des Wohnungseigentumsgesetzes in der bis zum 30.11.2020 geltenden Fassung Instandsetzungsmaßnahmen am gemeinschaftlichen Eigentum beschließt, die notwendig Substanzeingriffe auch am Sondereigentum erfordern, ist befugt, zugleich diejenigen Maßnahmen zu beschließen, die zur Wiederherstellung des Sondereigentums erforderlich sind.

Der Sachverhalt:
Die Parteien bilden eine Wohnungseigentümergemeinschaft. Die Anlage besteht aus vier in den 1960er Jahren errichteten Hochhäusern. Zu TOP 4 der Eigentümerversammlung am 29.9.2016 standen mehrere Beschlussfassungen über die notwendige Erneuerung der im Gemeinschaftseigentum stehenden Rohrleitungen für die Be- und Entwässerung eines der Häuser auf der Tagesordnung. Im Vorfeld waren Angebote dreier Handwerksunternehmen eingeholt worden, die jeweils eine konventionelle Strangsanierung durch Austausch der Leitungen nebst hierdurch bedingten Arbeiten am Sondereigentum vorsahen, insbesondere an den Bädern der Wohnungen.

Die Wohnungseigentümer beschlossen unter TOP 4 a) den Austausch der gemeinschaftlichen Be- und Entwässerungsleitungen des betroffenen Hauses einschließlich der im Gemeinschaftseigentum stehenden Rohrleitungen, die sich im räumlichen Bereich des jeweiligen Sondereigentums befinden. In dem Beschluss heißt es u.a.:

„Die Maßnahmen umfassen auch die Wiederherstellung des Sondereigentums i.S.v. § 14 Abs. 4 WEG, soweit dieses infolge der Sanierung des Gemeinschaftseigentums in Anspruch genommen werden muss.“

Der unter TOP 4 b) gefasste Beschluss enthielt die Vergabe der Arbeiten an einen der drei Anbieter und die Ermächtigung der Verwaltung zum Vertragsschluss; unter TOP 4 c) wurde die Finanzierung der Maßnahmen beschlossen.

Das AG hat die gegen diese drei Beschlüsse gerichtete Beschlussmängelklage abgewiesen. Das LG hat die Beschlüsse im Berufungsverfahren für ungültig erklärt. Auf die Revision der Beklagten hat der BGH das Berufungsurteil aufgehoben und die Berufung der Kläger zurückgewiesen.

Gründe:
In der Sache verneint das Berufungsgericht die Beschlusskompetenz der Eigentümergemeinschaft für die angefochtenen Beschlüsse zu Unrecht.

Nach § 14 Nr. 4 Halbsatz 1 WEG aF ist jeder Wohnungseigentümer verpflichtet, das Betreten und die Benutzung der im Sondereigentum stehenden Gebäudeteile zu gestatten, soweit dies zur Instandhaltung und Instandsetzung des gemeinschaftlichen Eigentums erforderlich ist. Diese Verpflichtung umfasst im Einzelfall die Duldung von substanzverletzenden Eingriffen in das Sondereigentum, etwa wie hier bei der Verlegung oder Reparatur von Versorgungsleitungen. Die Eigentümergemeinschaft, die unter Geltung des Wohnungseigentumsgesetzes in der bis zum 30.11.2020 geltenden Fassung Instandsetzungsmaßnahmen am gemeinschaftlichen Eigentum beschließt, die notwendig Substanzeingriffe auch am Sondereigentum erfordern, ist befugt, zugleich diejenigen Maßnahmen zu beschließen, die zur Wiederherstellung des Sondereigentums erforderlich sind.

Entgegen der Auffassung des LG entfällt die Beschlusskompetenz nicht deshalb, weil die Wohnungseigentümer im Zeitpunkt der Beschlussfassung ihr Einverständnis mit der Durchführung der Naturalrestitution im Sinne von § 249 Abs. 1 BGB nicht erklärt hatten. Nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB ist der Gläubiger zwar befugt, statt der Herstellung des früheren Zustandes den dazu erforderlichen Geldbetrag zu verlangen. Dieses Recht des Geschädigten ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber nicht als eine Wahlschuld im Rechtssinne (§§ 262 ff. BGB), sondern als Ersetzungsbefugnis des Gläubigers zu verstehen. Denn es werden nicht von vornherein mehrere Leistungen geschuldet; vielmehr ist der Gläubiger nur berechtigt, anstelle der einen geschuldeten Leistung eine andere mit der Folge zu fordern, dass fortan nur dieser letzteren Erfüllungswirkung zukommt.

Bei der Ersetzungsbefugnis des Gläubigers kann der Schuldner anders als nach § 264 Abs. 2 BGB bei der Wahlschuld die vereinbarte Leistung erbringen, solange der Gläubiger sie noch nicht durch eine andere ersetzt hat. Es bestand daher im Zeitpunkt der Beschlussfassung keine Ungewissheit über den Leistungsinhalt, da der Verband zur Naturalrestitution i.S.v. § 249 Abs. 1 BGB verpflichtet war. Auch steht es den geschädigten Wohnungseigentümern nach wie vor frei, gem. § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB von der Gemeinschaft den für die Wiederherstellung des Sondereigentums erforderlichen Geldbetrag zu verlangen. Die Ausübung der den betroffenen Wohnungseigentümern zustehenden Ersetzungsbefugnis schließen die angefochtenen Beschlüsse zu TOP 4 a) und 4 b) ihrem Wortlaut nach nicht aus.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 31.08.2022 11:52
Quelle: BGH online

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