Otto Schmidt Verlag

BGH v. 10.10.2023 - VIII ZB 60/22

Zur Bezeichnung des Empfangsgerichts im besonderen elektronischen Anwaltspostfach

Zu den an einen Rechtsanwalt zu stellenden Sorgfaltsanforderungen hinsichtlich der Bezeichnung des Empfangsgerichts im besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA), wenn der Rechtsanwalt die Versendung eines fristgebundenen Schriftsatzes über das beA selbst ausführt.

Der Sachverhalt:
Der Beklagte ist Mieter einer Wohnung der Klägerin in Berlin. Die Klägerin nimmt ihn auf Zahlung rückständiger Miete sowie auf Nachzahlung von Betriebskosten in Anspruch. Das Amtsgericht hat die Klage überwiegend abgewiesen. Das Urteil wurde der Klägerin am 28.4.2022 zugestellt. Mit einem an das LG Berlin adressierten Schriftsatz legte die Klägerin Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil ein. Dieser Schriftsatz wurde als elektronisches Dokument über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) an das AG versandt, wo er am 30.5.2022 (Montag) - dem letzten Tag der Rechtsmittelfrist - einging. Beim (zuständigen) LG ging der Berufungsschriftsatz - nach Weiterleitung durch das AG - am 9.6.2022 ein. Nach einem Hinweis des LG auf das Versäumen der Frist zur Einlegung der Berufung legte die Klägerin (erneut) Berufung ein und beantragte mit im Wesentlichen folgender Begründung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand:

Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin habe die Berufungsschrift am Vormittag des Tags des Fristablaufs (30.5.2022) diktiert und nach Vorlage des Diktats und Kontrolle des Schriftsatzes eigenhändig unterschrieben. Sie habe anschließend eine in der Kanzlei beschäftigte Mitarbeiterin angewiesen, die Berufungsschrift sofort in das beA der Prozessbevollmächtigten der Klägerin für den Versand einzustellen. Gegen 14 Uhr habe die Kanzleimitarbeiterin der Prozessbevollmächtigten der Klägerin mitgeteilt, die beA-Nachricht sei mit Ausnahme der qualifizierten elektronischen Signatur sofort versandfertig an das Berufungsgericht. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin habe sich sofort in ihren beA-Account eingeloggt, die Berufungsschrift sowie die Anlage jeweils einzeln mit ihrer qualifizierten elektronischen Signatur versehen und den "Senden-Button gedrückt". Anschließend habe sie die Akte wieder an die Angestellte mit der Anweisung übergeben, den Versand zu überprüfen. Auf spätere Nachfrage habe die Angestellte versichert, der Versand sei ordnungsgemäß erfolgt. Tatsächlich aber sei durch ein unerklärliches Versehen der Mitarbeiterin beim Einstellen der beA-Nachricht in das Postfach der Prozessbevollmächtigten der Klägerin bei der Auswahl des Empfängers über die globale Adressliste das AG Schöneberg anstelle des LG Berlin ausgesucht worden, obwohl die Berufungsschrift (richtig) an das LG adressiert gewesen sei.

Das LG wies den Wiedereinsetzungsantrag der Klägerin zurück und verwarf deren Berufung als unzulässig. Die Berufung sei unzulässig, weil sie nicht fristgerecht (§ 517 ZPO) eingegangen sei. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei unbegründet, da die Voraussetzungen des § 233 ZPO nicht vorlägen. Die Klägerin sei nicht ohne ihr Verschulden gehindert gewesen, die Berufungsfrist einzuhalten. Die Rechtsbeschwerde der Klägerin hatte vor dem BGH keinen Erfolg.

Die Gründe:
Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Entschließt er sich - wie vorliegend die Prozessbevollmächtigte der Klägerin -, einen fristgebundenen Schriftsatz selbst bei Gericht einzureichen, hat er auch in diesem Fall geeignete Maßnahmen zu treffen, um einen fristgerechten Eingang zu gewährleisten. Übermittelt ein Rechtsanwalt - wie hier - einen fristgebundenen Schriftsatz per beA, entsprechen seine Sorgfaltspflichten dabei denjenigen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. In diesen Fällen gehört - neben der Verwendung eines funktionsfähigen Sendegeräts und dem rechtzeitigen Beginn des Übermittlungsvorgangs - die korrekte Eingabe der Empfängernummer zu seinen Sorgfaltsanforderungen.

Hiervon ausgehend war die Prozessbevollmächtigte der Klägerin, die den Versand der Berufungsschrift über das beA selbst vorgenommen hatte, verpflichtet, sich darüber zu vergewissern, dass der - von ihr durchgeführte - Sendevorgang an das zuständige Berufungsgericht als dem richtigen Empfangsgericht adressiert ist. Dies hat sie nicht mit der gebotenen Sorgfalt getan. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin konnte beim Versand der Berufungsschrift aus der beA-Webanwendung den Adressaten ihrer Nachricht - ähnlich einer E-Mail - dem deutlich sichtbaren Empfängerfeld entnehmen. Für sie war somit - noch deutlicher als bei einer Faxübersendung - erkennbar, wohin sie die beA-Nachricht schickt, wenn sie, wie von ihr ausgeführt, auf den "Senden-Button gedrückt" hat. Es musste ihr ohne Weiteres auffallen, dass es sich bei dem ausgewählten AG nicht um das zuständige Gericht für die Einlegung einer Berufung handeln konnte.

Die Rechtsbeschwerde kann zur Begründung eines fehlenden Verschuldens der Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht mit Erfolg darauf verweisen, die Auswahl einer Fax-Nummer sei eine auf das zuverlässige Büropersonal übertragbare, nicht vom Rechtsanwalt selbst vorzunehmende und zu kontrollierende Aufgabe, so dass dieser im hiermit vergleichbaren Fall der elektronischen Übermittlung eines fristgebundenen Schriftsatzes über das beA ebenfalls nicht verpflichtet sei, das vom Büropersonal zuvor ausgewählte Empfangsgericht zu kontrollieren.

Zwar kann ein Rechtsanwalt, anders als es im Berufungsurteil anklingt, die Einstellung des Empfangsgerichts im beA auf der Grundlage des im Schriftsatz angegebenen Gerichts - ähnlich wie das Heraussuchen einer Fax-Nummer - auf geschulte und zuverlässige Kanzleimitarbeiter übertragen. Im Berufungsschriftsatz war das Empfangsgericht mit dem zur Entscheidung über die Berufung zuständigen LG Berlin korrekt angegeben. Daher steht nicht die seitens des Prozessbevollmächtigen nicht deligierbare eigentliche Bezeichnung des zuständigen Empfangsgerichts im fristwahrenden Schriftsatz in Rede, sondern lediglich dessen Auswahl ("Eingabe") im beA im Rahmen des Versandvorgangs.

Jedoch ist zur Beurteilung des Verschuldens i.S.d. § 233 ZPO im vorliegenden Fall maßgebend, dass die Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Berufungsschriftsatz selbst versendet hat, so dass es gerade ihr oblag - vergleichbar mit dem eigenhändigen Fax-Versand bzw. dem eigenhändigen Einwurf eines beschrifteten Briefumschlags - sicherzustellen, dass der Empfänger korrekt angegeben und der von ihr durchgeführte Versandvorgang an den - für sie im beA erkennbaren - zutreffenden Empfänger gerichtet ist und diesen der Schriftsatz damit fristgerecht erreichen wird.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | ZPO
§ 233 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Greger in Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Aufl. 2024
10/2023

Rechtsprechung:
Ersatzeinreichung per Telefax statt über beA
BGH vom 25.07.2023 - X ZR 51/23
MDR 2023, 1405
MDR0060509

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 23.11.2023 15:04
Quelle: BGH online

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